Musik
1: Choralcantate: „Wach
auf, du Geist der ersten Zeugen“, Text:Karl Heinrich von
Bogatzky(1750),komposition:
Albert Knapp(1837); Album:Koraalcantates Von:Christelijk
Gemengd Koor ‚Cantate Deo‘ Amersfoort o.l.v. Peter Eilander / Everhard Zwart;
Label: Te Deum; LC: 79341; Verkauft von: Amazon Digital Germany GmbH; ASIN:
B07KTLR7LT.
Autor
(overvoice): Kennen Sie das? Sie wachen aus einem Alptraum auf und kommen
allmählich dahinter, dass doch alles halbwegs in Ordnung ist. Sie sind
erleichtert. Als Präsident Putin den Befehl für den Einmarsch in die Ukraine
erteilte, war es umgekehrt für mich. Die Idylle zerstob und der Alptraum
ergriff Besitz von der Realität. Der Traum von einer halbwegs friedlichen Welt,
zumindest in Europa, hat sich als trügerisch erwiesen. Eine zutiefst
irritierende Enttäuschung ist eingetreten, eine mir Sicherheit vorgaukelnde
Sicht auf die Welt hat sich als Täuschung erwiesen. Ich wurde jäh aus einem
Traum gerissen und stellte fest: das Leben ist nicht so, wie ich dachte.
Sprecherin
(overvoice): „Wacht auf, denn eure Träume sind schlecht!“
Autor
(overvoice): So rief Günter Eich fünf Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs
den Deutschen zu, die sich seiner Einschätzung nach in trügerischer Sicherheit
wiegten.
Sprecherin
(overvoice): „Wach auf, wach auf, du deutsches Land, du hast genug geschlafen“
Autor
(overvoice): So rief Johann Walter 1561 den Deutschen zu, als er um die
Errungenschaften der Reformationen fürchtete. (0:30)
Sprecherin:
„Wach
auf, du Geist der ersten Zeugen“
Autor:
So
beginnt ein Lied von Carl Heinrich von Bogatzky. Dessen Vater hatte 1716 den
Kontakt zu seinem Sohn abgebrochen, weil er die für ihn vorgesehene
Offizierslaufbahn ablehnte und sich stattdessen der Theologie zuwandte.
„Wach
auf, du Geist der ersten Zeugen“, ist eines der Wochenlieder für den morgigen
5. Sonntag nach Trinitatis. Carl Heinrich Bagetzky hat es 1756 veröffentlicht.
Musik
2: „Wach auf, du
Geist der ersten Zeugen“, Text:Karl Heinrich von
Bogatzky(1750),komposition:
Albert Knapp(1837); Album:Was Gott tut, das
ist wohlgetan
Von:Gerhard
Schnitter; Das Solistenensemble; Label: SCM Hänssler; LC: 98808; Verkauft von:
Amazon Digital Germany GmbH; ASIN: B09H419Q9R.
Sprecherin
(overvoice)
Wach
auf, du Geist der ersten Zeugen,
die auf der Maur als treue Wächter stehn,
die Tag und Nächte nimmer schweigen
und die getrost dem Feind entgegengehn,
ja deren Schall die ganze Welt durchdringt
und aller Völker Scharen zu dir bringt
Autor:
Die
„ersten Zeugen“ halten Wache auf den Befestigungsmauern. Die Aufgabe der
sogenannten Türmer besteht darin, die Menschen vor Feuersbrünsten und
anrückenden Heeren zu warnen. Und wieder geht’s ums Aufwachen.
Musik
3: „Dir, dir Jehovah will ich singen“, Zweiundfünfzig
leicht ausführbare Vorspiele zu den gebräuchlichsten evangelischen Chorälen, Op.
67: No. 7, Dir, dir Jehovah will ich singen! komposition: Albert Knapp; Album:Max Reger – Works
for Organ – Vol. 5 (Schuke-Orgel, Marktkirche in Halle, Saale), Von: Irénée Peyrot; Label: cpo; LC:
08492; Verkauft von: Amazon Digital Germany GmbH; ASIN: B08C9NM74R.
Autor
(overvoice): Der große Lyriker der deutschen Romantik, Joseph von Eichendorff,
weiß von der Frustration der Wächter, wenn es nicht gelingt, die Menschen
wachzurütteln.
Sprecherin
(overvoice)
Nächtlich
macht der Herr die Rund,
Sucht
die Seinen unverdrossen,
Aber
überall verschlossen
Trifft
er Tür und Herzensgrund,
Und
er wendet sich voll Trauer:
Niemand
ist, der mit mir wacht. –
Nur
der Wald vernimmt’s mit Schauer,
Rauschet
fromm die ganze Nacht.
Waldwärts
durch die Einsamkeit
Hört
ich über Tal und Klüften
Glocken
in den stillen Lüften,
Wie
aus fernem Morgen weit –
An
die Tore will ich schlagen,
An
Palast und Hütten: Auf!
Flammend
schon die Gipfel ragen,
Wachet
auf, wacht auf, wacht auf!
Autor:
Auch
der Theologe und Liederdichter Friedrich Spitta spricht unverhohlen kriegerisch
von den „scharf geschliffnen Waffen der ersten Christenheit“. Und wie der
ukrainische Präsident nach schweren Waffen ruft, so dichtet Friedrich Spitta in
seinem Choral „O komm, du Geist der Wahrheit“:
Musik
2
Sprecherin
(overvoice):
Unglaub
und Torheit brüsten
sich frecher jetzt als je;
darum musst du uns rüsten
mit Waffen aus der Höh.
Du musst uns Kraft verleihen,
Geduld
und Glaubenstreu
und
musst uns ganz befreien
von
aller Menschenscheu.
Autor:
Mag
sein, hier geht es um „Waffen aus der Höh“, also um eine Art himmlischen
Beistand. Dennoch: Bei der Nachrichtenlage und angesichts der Kriegsmetaphorik
in manchen Chorälen frage ich mich: Müssen wir umdenken? Gibt es am Ende doch
gerechte Waffengänge? Die sich der Wahrheit und dem Recht nahe fühlen, neigen
zu dieser Auffassung. Waren die Kreuzzüge gerechte Kriege? Eher nicht. Hat der
Dreißigjährige Krieg zwischen Protestanten und Katholiken Europa wohnlicher
gemacht? Wohl kaum. Wie ist es mit dem Krieg der Anti-Hitler-Koalition gegen
das nationalsozialistische Deutschland, dem Einsatz von Nato-Truppen gegen
Kriegsverbrecher im Kosovo, wie mit dem bewaffneten Widerstand der Ukraine
gegen Putins Aggression?
Musik
2
Sprecherin
(overvoice)
Ach
daß die Hilf aus Zion käme!
O daß dein Geist, so wie dein Wort verspricht,
dein Volk aus dem Gefängnis nähme!
O würd es doch nur bald vor Abend licht!
Ach reiß, o Herr, den Himmel bald entzwei
und komm herab zur Hilf und mach uns frei!
Autor:
Ein
Hilferuf derer, die unter die Räder gekommen sind. Reden nicht die Überfallenen
in einem ähnlich dringenden Ton?
Musik
4 :“Wach auf, du
Geist der ersten Zeugen“, Text:Karl Heinrich von
Bogatzky(1750),komposition:
Albert Knapp(1837); Album:Lobsingt ihr
Völker alle;
Interpret:Windsbacher
Knabenchor;
Leitung: Martin Lehmann; Label: RONDEAU; LC: 06690; Verkauft von: Amazon Digital
Germany GmbH; ASIN: B00JXFML3W.
Sprecherin
(overvoice): laß eilend Hilf uns widerfahren und brich in Satans Reich mit
Macht hinein
Autor:
Warum
nur operieren manche Kirchenlieder mit militärisch anmutenden Bildern?
Vielleicht deshalb, weil diese Bilder existentielle Krisen und Nöte
widerspiegeln? Weil es den Unterjochten schier unmöglich ist, der Versuchung
der Gewalt zu widerstehen? Weil es den Machthungrigen schon viel zu oft
gelungen ist, Menschen unter dem Vorwand vermeintlicher Ideale in den Krieg zu
hetzen?
Wir
befinden uns in einem Dilemma. Der große Dichter und Dramatiker des Barocks,
Andreas Gryphius, spricht 1635 davon, dass jeder Krieg dem Menschen den
Seelenschatz abzwinge, sei dieser Krieg nun gerecht oder nicht. Gibt es
überhaupt gerechte Kriege? Und wenn nicht: Ist es Christenpflicht, sich auszuliefern?
Nie
habe ich besser verstanden, was es heißt, in einer unerlösten Welt zu leben.
Die
vorletzte Strophe unseres Liedes nimmt eine überraschende Wende:
Sprecherin:
Laß
jede hoh und niedre Schule
die Werkstatt deines guten Geistes sein,
ja sitze du nur auf dem Stuhle
und präge dich der Jugend selber ein,
daß treuer Lehrer viel und Beter sein,
die für die ganze Kirche flehn und schrein!
Autor:
Gehen
wir also in Gottes Schule. Flehen und schreien wir. Lernen wir, dass
Realpolitik und visionäres Denken sich nicht im Wege stehen. Im Gegenteil. Sie
benötigen einander. Und die Bibel ist wahrlich nicht die schlechteste Quelle
für Friedensvisionen. Welch wunderbare Aussichten bietet der Prophet Jesaja:
Sprecher:
Denn
von Zion wird Weisung ausgehen und des HERRN Wort von Jerusalem. Und er wird
richten unter den Nationen und zurechtweisen viele Völker. Da werden sie ihre
Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln. Denn es wird kein
Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr
lernen, Krieg zu führen.
Redaktion: Landespfarrer
Dr. Titus Reinmuth