Dankbarkeitsanfälle

Kirche in WDR2 | 09.08.2022 | 00:00 Uhr

Mein Leben ist nicht super! Es

gibt eine Menge, was ich mir wirklich wünsche, aber nicht habe – und vielleicht

nie haben werde. Ich will hier nichts schönreden, indem ich aufzähle, wie

schlecht es Menschen in anderen Ländern geht. Wie mein Leben dann im Vergleich mit

ihnen unendlich viel besser erscheint. Zumindest nach westlichen Maßstäben.

Und doch bekomme ich seit ein

paar Monaten nach richtig schlechten Nachrichten aus der Welt früher oder

später Dankbarkeitsanfälle. Ich weiß nie, wann sie kommen. Ich vermute, dass mein

Herz erst Zeit braucht, um sich von dem Grauen, der Ungerechtigkeit und

Dummheit der Menschheit zu erholen, bis es wieder was anderes fühlen kann.

Aber wenn mich die

Dankbarkeit überfällt, fühle ich sie aus vollem Herzen.

Wenn ich morgens aufwache im

Bett und mir nichts wehtut; ich es warm habe und sicher bin – dann überflutet

es mich – das Dankbarkeitsgefühl – und ich denke: „Wenn ich später mal auf mein

Leben zurückblicke, dann werde ich daran denken und mich erinnern, wie sicher

und frei ich gewesen bin.“

Wenn ich morgens frühstücke

und ich beim ersten Bissen denke, das ist so lecker – wie gut, dass ich das

haben darf, dann ist mir klar: „Ich werde mich an diese Zeit erinnern und

denken, dass ich immer gutes, leckeres Essen gehabt habe.“

Wenn ich mit dem Fahrrad zur

Arbeit fahre und die Blätter sind grün und die Luft ist angenehm auf meiner

Haut – dann weiß ich: „Ich werde mich erinnern, wie gut mir die Jahreszeiten

und das Klima im Jahr 2022 getan haben.“

Wenn ich hinter meinem alten

Hund herlaufe und ihre Lebenslust in jeder Bewegung sehe, dann weiß ich, dass

ich mich danach zurücksehnen werde, wenn sie tot ist. Dass ich denken werde,

wie glücklich sie mich gemacht hat.

Meine Dankbarkeitsanfälle

sind manchmal schmerzhaft, meistens süß und schnell vorbei. Sie sind

Augenblicke, in denen ich mehr und weitersehe als nur das, was gerade vor Augen

und überall zu hören ist. Ich sehe mich dann in ferner Zukunft zurückblicken

und spüre schon jetzt was mir alles Großes geschenkt ist.

Wenn mich die Dankbarkeit

über das kleine und große zerbrechliche Glück durchströmt, dann merke ich: Das

Grauen nimmt nicht Überhand. Kein Krieg, keine Hungersnot, keine Pandemie,

keine Klimakrise. So schrecklich das alles ist, so sehr mich das alles

runterzieht – meine Dankbarkeitsanfälle ziehen mich wieder hoch. Früher oder

später. Ich glaube Dankbarkeit ist ein Geschenk Gottes. Oder genauer gesagt: Dieser

Blick für die kleinen oder selbstverständlichen Dinge. Sie nicht aus den Augen

zu verlieren, das gibt mir Kraft in jeder Krise.

Redaktion: Pastorin Sabine Steinwender-Schnitzius

https://www.kirche-im-wdr.de/uploads/tx_krrprogram/58757_WDR220220809Berger.mp3

  • 9.8.2022
  • Katrin Berger
  • © CCO Pixabay
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