Schuhe aus

Sonntagskirche | 08.08.2021 | 00:00 Uhr

Guten

Morgen.

Louis

läuft durch die Straßen. Er ist schon eine Weile unterwegs. In seiner Wohnung

hat er es nicht mehr ausgehalten. Zu viel geht ihm durch den Kopf. Seine

Gedanken kreisen wie ein Satellit in seinem Gehirn, so dass ihm ständig

schwindelig wird.

Das

letzte Jahr war hart. Die Pandemie, die Einschränkungen, die Kurzarbeit.

Er

ist viel alleine gewesen. Hat an die Wand gestarrt und sich gefragt, wie seine

Zukunft wohl aussehen wird.

Wie

er wohl aussehen wird? Was er wohl tun wird? Wen er wohl lieben wird? Wer ihn

wohl lieben wird?

Es

ist nicht das erste Mal, dass er sich gefragt hat, ob seine Füße ihn immer

tragen werden. Aber es ist das erste Mal, dass er spürt, dass sie ihn ins

Wanken bringen, dass die Knie weich werden und die Füße wegrutschen. Er spürt

es beim Laufen durch die Stadt. Als wären die Gedankenkreisel in seinen Beinen

angekommen. Als wüssten seine Füße nicht wohin.

Mit

den Augen beginnt er einen Platz zum Sitzen zu suchen, er braucht eine Pause.

Er

findet eine Lücke auf der Mauer neben dem alten Stadttor. Er setzt sich.

Er

sitzt und atmet. Atmet die warme Luft. Die Menschen um ihn herum verschwimmen.

Nach

einer Weile zieht Louis seine Schuhe aus. Ganz langsam. Erst den linken Schuh

und dann den rechten. Vorsichtig stellt er seine nackten Füße wieder auf den

Boden.

Sie

schmerzen.

Er

spürt den heißen Asphalt unter seinen Füßen.

Eigentlich

ist der Asphalt zu heiß für seine zarten Fußsohlen. Doch irgendwie kann er

nicht anders. Er braucht Boden unter den Füßen.

Boden,

der ihn trägt. Boden, der ihm versichert: Es wird weitergehen. Er

folgt einer Stimme in seinem Inneren. Wie Mose aus der Bibel, dem Gott in der

Wüste begegnet. Gott gibt ihm einen Auftrag. Und vorher sagt er: „Zieh deine

Schuhe aus, denn der Boden, auf dem du stehst, ist heiliger Grund.“ (Die Bibel,

2. Mose 3,5)

Vorsichtig setzt Louis einen Fuß vor den anderen.

Seine Füße tragen ihn. Barfuß fühlt sich sein Gehen

ganz anders an.

Die Kraft, die durch die Füße in ihn einströmt,

unterbricht den Kopf mit seinen Gedanken.

Louis spürt die Nuancen unter seinen Fußsohlen. Die

hubbeligen Stellen auf dem Asphalt. Den Schatten und die Sonne. Er läuft durch

die Stadt. Manchmal piekst es ihn. Kleine Steinchen graben sich in seine

Fußsohle hinein. Drüben am Park sieht er die grüne Wiese. Er kann es kaum

erwarten, sie zu betreten.

Als er dort ist, wirkt das Gras wie eine Massage.

Seine Fußsohlen entspannen sich.

Das Gras ist feucht und warm.

Er schaut seine Füße an. Was hatte Gott zu Mose gesagt: „Zieh deine Schuhe aus, denn der Boden, auf dem du stehst, ist heiliger Grund.“ (Die

Bibel, 2. Mose 3,5)

Eine Stimme reißt ihn aus seiner Fuß-Meditation.

„Hier!“ hört er es rufen.

Die Stimme rüttelt ihn auf irgendeine komische Art wach. Ihm wird kurz heiß.

Er geht schnellen Schrittes zurück zur Mauer, holt

seine Schuhe. Er trägt sie nach Hause, hält noch kurz beim Bäcker an.

Er muss los. Einen alten Freund anrufen. Die Wäsche

waschen. Und dann hat er was vor. Was, weiß er noch nicht genau. Aber Lust hat

er. Lust auf Leben.

Redaktion: Landespfarrerin Petra

Schulzehttps://www.kirche-im-wdr.de/uploads/tx_krrprogram/55832_SK20210808Haseleu.mp3

  • 8.8.2021
  • Miriam Haseleu
  • © CCO Pixabay
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