Autorin: Guten Morgen.
Jule
ist gerade aufgestanden. Noch etwas verschlafen kocht sie sich ihren Tee. Sie
hält den Teefilter fest, während sie das heiße Wasser aufgießt.
Dabei
fällt ihr Blick auf ihre linke Hand.
Da
hat sich ein neuer Altersfleck gebildet, genau unter der kleinen Mulde zwischen
Daumen und Zeigefinger, eine Stelle ihres Körpers, die sie sehr mag.
Von
dem kleinen Fleck, den sie überraschend gut akzeptieren kann, gleitet ihr Blick
über die Handfläche und die Finger.
Sie
stellt die Kanne ab und hält ihre beiden Hände nebeneinander.
Was
haben diese Hände nicht schon alles geleistet.
Getragen
und gehalten, gestreichelt und gearbeitet.
Wie
oft schon hat sie morgens ihren Tee mit ihren Händen zubereitet.
Wie
oft schon hat sie den Briefkasten geleert, die Wäsche angestellt, den Balkon
bepflanzt.
Und
so oft durften diese Hände das tun, was sie am liebsten machen: töpfern. Sie
tauchen ein in die feuchte kühle Masse und formen. Nicht das Ergebnis zählt. Die
Schönheit des Seins beginnt für sie in einem Stück Ton, das sie formen darf.
Sprecher: „Aber nun, Gott, du bist unser Vater, unsere Mutter,
wir
sind der Ton, du bist die Töpferin, wir alle sind das Werk deiner Hände.“ (Die Bibel in gerechter
Sprache, Jesaja 64,7)
Autorin: Wenn sie töpfert, ist sie ganz versunken und gibt
sich dem Gefühl und dem Material hin.
Die
Details, der Moment, das Werden…
Jedes
Gefäß, das zwischen ihren Fingern entstanden ist, ist anders als alle anderen.
Jede Vase, jede Schale hat etwas ganz Besonderes. Eine kleine Veränderung in
der Bewegung ihrer Finger gibt jedem getöpferten Stück etwas Einzigartiges.
Jule
betrachtet ihre Finger. Im Licht der hellen Morgensonne kann sie die feine
Musterung an den Fingerspitzen erkennen. Ihren Fingerabdruck. Auch einzigartig.
Manchmal
muss sie unweigerlich an die Töpferkunst denken, wenn sie mal wieder
Besonderheiten oder Macken an sich selbst oder anderen entdeckt.
Gerade
an den Stellen, wo der Abdruck ihres Fingers im Ton nicht gut genug verwischt
ist, erkennt sie ihre künstlerische Handschrift.
Jule
dreht ihre linke Hand und ihr Blick fällt wieder auf die kleine Pigmentierung
unter der Mulde neben ihrem Daumen. Ob der Altersfleck auf ihrer Hand auch ein
Zeichen einer Handschrift, einer schöpferischen Kraft ist? Gar eine Art
Fingerabdruck? Ein Fingerabdruck Gottes?
In
den sanften Momenten des Lebens fühlt es sich so an.
So
wie jetzt gerade. Sie trinkt einen Schluck Tee.
Er gibt
Energie und stärkt sie für ihren langen Weg.
Ein
Weg, auf dem sie geworden ist, wie sie ist. Durch das, was sie geschenkt bekommen
hat, und das, was sie geprägt hat.
Und
sie empfindet eine tiefe Freude darüber, dass auch sie mit ihren eigenen Händen
in dieser weiten Welt kleine Welten erschaffen kann.
Ich wünsche Ihnen einen
schöpferischen Sonntag .
Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze
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