Ton in Ton

Sonntagskirche | 01.08.2021 | 00:00 Uhr

Autorin: Guten Morgen.

Jule

ist gerade aufgestanden. Noch etwas verschlafen kocht sie sich ihren Tee. Sie

hält den Teefilter fest, während sie das heiße Wasser aufgießt.

Dabei

fällt ihr Blick auf ihre linke Hand.

Da

hat sich ein neuer Altersfleck gebildet, genau unter der kleinen Mulde zwischen

Daumen und Zeigefinger, eine Stelle ihres Körpers, die sie sehr mag.

Von

dem kleinen Fleck, den sie überraschend gut akzeptieren kann, gleitet ihr Blick

über die Handfläche und die Finger.

Sie

stellt die Kanne ab und hält ihre beiden Hände nebeneinander.

Was

haben diese Hände nicht schon alles geleistet.

Getragen

und gehalten, gestreichelt und gearbeitet.

Wie

oft schon hat sie morgens ihren Tee mit ihren Händen zubereitet.

Wie

oft schon hat sie den Briefkasten geleert, die Wäsche angestellt, den Balkon

bepflanzt.

Und

so oft durften diese Hände das tun, was sie am liebsten machen: töpfern. Sie

tauchen ein in die feuchte kühle Masse und formen. Nicht das Ergebnis zählt. Die

Schönheit des Seins beginnt für sie in einem Stück Ton, das sie formen darf.

Sprecher: „Aber nun, Gott, du bist unser Vater, unsere Mutter,

wir

sind der Ton, du bist die Töpferin, wir alle sind das Werk deiner Hände.“ (Die Bibel in gerechter

Sprache, Jesaja 64,7)

Autorin: Wenn sie töpfert, ist sie ganz versunken und gibt

sich dem Gefühl und dem Material hin.

Die

Details, der Moment, das Werden…

Jedes

Gefäß, das zwischen ihren Fingern entstanden ist, ist anders als alle anderen.

Jede Vase, jede Schale hat etwas ganz Besonderes. Eine kleine Veränderung in

der Bewegung ihrer Finger gibt jedem getöpferten Stück etwas Einzigartiges.

Jule

betrachtet ihre Finger. Im Licht der hellen Morgensonne kann sie die feine

Musterung an den Fingerspitzen erkennen. Ihren Fingerabdruck. Auch einzigartig.

Manchmal

muss sie unweigerlich an die Töpferkunst denken, wenn sie mal wieder

Besonderheiten oder Macken an sich selbst oder anderen entdeckt.

Gerade

an den Stellen, wo der Abdruck ihres Fingers im Ton nicht gut genug verwischt

ist, erkennt sie ihre künstlerische Handschrift.

Jule

dreht ihre linke Hand und ihr Blick fällt wieder auf die kleine Pigmentierung

unter der Mulde neben ihrem Daumen. Ob der Altersfleck auf ihrer Hand auch ein

Zeichen einer Handschrift, einer schöpferischen Kraft ist? Gar eine Art

Fingerabdruck? Ein Fingerabdruck Gottes?

In

den sanften Momenten des Lebens fühlt es sich so an.

So

wie jetzt gerade. Sie trinkt einen Schluck Tee.

Er gibt

Energie und stärkt sie für ihren langen Weg.

Ein

Weg, auf dem sie geworden ist, wie sie ist. Durch das, was sie geschenkt bekommen

hat, und das, was sie geprägt hat.

Und

sie empfindet eine tiefe Freude darüber, dass auch sie mit ihren eigenen Händen

in dieser weiten Welt kleine Welten erschaffen kann.

Ich wünsche Ihnen einen

schöpferischen Sonntag .

Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze

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  • 1.8.2021
  • Miriam Haseleu
  • © CCO Pixabay
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