Hannes der Hahn

Kirche in WDR2 | 13.08.2022 | 00:00 Uhr

Hätte irgendjemand es mir vor

einem Jahr gesagt, ich hätte geantwortet: Du spinnst! Niemals. Und jetzt ist es

doch passiert: Ich habe mir Hühner zugelegt. Sechs Hühner und einen Hahn.

Hannes. Und jetzt erwische ich mich immer wieder, wie ich im selbstgebastelten

Hühnerstall auf einem Höckerchen sitze und ihn einfach nur beobachte: Ah, jetzt

geht er nach links. Wie der guckt! Oh, jetzt geht er nach rechts. Scharrt.

Pickt.

Eigentlich ist es total langweilig in diesem Stall. Und: Hühner sind nun

wirklich keine aufregenden Tiere. Und doch sitze ich stundenlang einfach nur so

da und beobachte Hannes, den Hahn. Oh, jetzt geht er wieder nach links.

Meine

Zeit mit Hannes ist wie ein Gegenentwurf zu dem, was Leben heute sonst

bedeutet: Hektik und Schnelligkeit, Drama und Skandal überall. Krieg und

Inflation. Corona. Und der Politiker hat dies gesagt: Skandal! Und dieser

Filmschauspieler hat das getan: Skandal! Irgendwo auf der großen, weiten Welt

ist schließlich immer etwas los, über das man sich empören kann. Und manchmal

auch muss! Alles ist laut und schreit nach Aufmerksamkeit. Denn nur, wer am

lautesten schreit, wird gehört. Bis der nächste schreit.

Und Hannes, der Hahn,

läuft von links nach rechts. Und ich sehe zu. Zugegeben: Man kann das

Weltflucht nennen. Schließlich wird die Welt nicht dadurch besser, dass man in

einem Hühnerstallt hockt, sondern dass man etwas unternimmt und aktiv ist.

Vielleicht aber ist es auch etwas ganz anderes: Eine Ahnung davon, dass das

Leben nicht nur dann erfüllt ist, wenn man möglichst viel Aufregung in einen

möglichst kleinen Zeitraum packt.

Dass man auch einfach mal nur so da sein

kann. Vielleicht ist es die Ahnung, dass mehr als eine bestimmte Menge an

Aufregung und Skandalen ein Leben sogar überfordert. Jesus hat einmal gesagt:

„Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat.“ (Mt 6,34) Und meint wohl

eben das: Es gibt natürlich Sorgen, die du dir machen musst. Verantwortung, die

du übernehmen musst. Dinge, die darauf warten, dass du dich um sie kümmerst.

Weil da kein anderer ist, der das tun wird.

Aber: Es gibt auch ein „genug“. Da

muss auch noch Zeit bleiben, zu leben. Einfach nur da zu sein. Mittlerweile

sitze ich schon eine halbe Stunde hier auf meinen Höckerchen. Gedankenverloren.

So langsam meldet sich mein Rücken und erinnert mich daran, dass es auch noch

ein Leben außerhalb des Stalls gibt. Mit einem Ruhepuls knapp über der

Einschlafgrenze verlasse ich meinen Beobachtungsposten, schließe die Stalltür.

Und weiß, dass ich morgen wiederkomme.

Redaktion: Pastorin Sabine Steinwender-Schnitzius

https://www.kirche-im-wdr.de/uploads/tx_krrprogram/58794_WDR220220813Schroedter.mp3

  • 13.8.2022
  • Thomas Schrödter
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