Alt werden mit Anstand

Kirche in WDR3 | 16.07.2022 | 00:00 Uhr

Guten Morgen,

„Ich möchte mit Anstand alt werden!“, sagt ein Mann um die

sechzig im Radio. Da spricht jetzt kein Moralapostel. Sondern ein dankbarer

Christ. In seinem Glauben blickt er „über das Grab hinaus“, wie er sagt. Und er

hofft auf noch viele schöne geschenkte Lebensjahre. Und die will er nun eben

nutzen, um mit Anstand alt zu werden. Damit meint der Mann nicht, dass ich mich

durch besondere Leistungen bei Gott und Menschen ins rechte Licht rücken soll.

Er meint es eher wie es eine unbekannte Äbtissin einmal in einem Gebet

formuliert haben soll:

Sprecherin (weiblich): „Herr, du weißt, dass ich altere und

bald alt sein werde. Bewahre mich davor, schwatzhaft zu werden, und besonders

vor der fatalen Gewohnheit, bei jeder Gelegenheit und über jedes Thema mitreden

zu wollen. Befreie mich von der Einbildung, ich müsse anderer Leute

Angelegenheiten in Ordnung bringen. (…) Ich wage nicht, dich um die Fähigkeit

zu bitten, die Klagen meiner Mitmenschen über ihre Leiden mit nie versagender

Teilnahme anzuhören. Hilf mir nur, sie mit Geduld zu ertragen, und versiegle

meinen Mund, wenn es sich um meine eigenen Kümmernisse und Gebrechen handelt.

Sie nehmen zu mit den Jahren, und meine Neigung, sie aufzuzählen, wächst mit

ihnen.

Ich will dich auch nicht um ein besseres Gedächtnis bitten,

nur um etwas mehr Demut und weniger Selbstsicherheit, wenn meine Erinnerungen

nicht mehr mit der anderer übereinstimmt. Schenke mir die wichtige Einsicht,

dass ich mich gelegentlich irren kann.

Hilf mir, einigermaßen milde zu bleiben. Ich habe nicht den

Ehrgeiz, eine Heilige zu werden. Mit manchen von ihnen ist es so schwer

auszukommen. (….)

Mache mich teilnehmend, aber nicht sentimental, hilfsbereit,

aber nicht aufdringlich. Gewähre mir, dass ich Gutes finde, wo ich es nicht

vermutet habe, und Talente bei Leuten, denen ich es nicht zugetraut hätte. Und

schenke mir, Herr, die Liebenswürdigkeit, es ihnen zu sagen. Amen.“ (1)

Ich freue mich über dieses Gebet, das sogar im Evangelischen

Gesangbuch steht. Es ist nicht nur ernsthaft, sondern zugleich überaus

vergnüglich. Wie schön, dass hier ein Mensch vor Gott über sich selbst lachen

kann und seine Schwächen und Fehler ehrlich offen ausspricht. Allein der Satz:

„Schenke mir die wichtige Einsicht, dass ich mich gelegentlich irren kann“, ist

doch Goldwert. Vielleicht hat jener Mann, der mit Anstand alt werden will, auch

gerade an die Weisheiten und Wahrheiten dieses Gebetes gedacht. Es ist ja

wirklich so: Wenn ich mein Augenmerk auf das richte, was ich noch habe, statt

auf das, was ich verloren habe, wenn ich die Fülle der vergangenen Jahrzehnte

schätzen kann, dann empfinde ich eine tiefe Dankbarkeit. „Solange wir

Dankbarkeit für das Erlebte empfinden, ist es auch nicht schlimm, nicht alles

gehabt zu haben“, sagt der 90-jährige Theologe Prof. Fulbert Steffensky.

Ja – altern erfordert Mut! Weil die Verluste zunehmen. Weil ich Fähigkeiten und

Freunde verliere. Das ist schmerzhaft in einer Gesellschaft, in der Jugend und

Leistungsstärke im Vordergrund stehen. Doch das Alter kann auch eine sehr produktive

Lebenszeit sein, ob ehrenamtlich, künstlerisch oder familiär. Und vor allem:

Mit einer großen Portion Humor, Gelassenheit und Gottvertrauen wie die Äbtissin

sie hatte.

Dass Ihnen dies gelingt, wünscht Ihnen Prädikant Werner Brück

aus Remscheid.

Quelle:

(1) Evangelisches Gesangbuch (eg), Ausgabe für die

Evangelisch-Lutherischen Kirchen in Bayern und Thüringen, eg 830.3, S. 1423,

Gebet einer unbekannten Äbtissin (oftmals Teresa von Avila zugeschrieben).

Redaktion: Landespfarrerin Petra

Schulze

https://www.kirche-im-wdr.de/uploads/tx_krrprogram/58745_WDR3520220716Brueck.mp3

  • 16.7.2022
  • Werner Brück
  • © CCO Pixabay
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