Kontakt ohne (Ge)Sicht

Kirche in WDR2 | 26.08.2021 | 00:00 Uhr

Hörbuch: Track 1, 3, 4 (CD

1), Track 7 (CD 2), Hörbuch „Gut gegen Nordwind“, Interpreten: Andrea

Sawatzki & Christian Berkel, Texter: Daniel Glattauer, Verlag:

HörbucHHamburg, EAN: 978-3-89903-807-1

Autor: Sie

haben sich nie gesehen, aber sie schreiben einander. Sie wissen vom anderen nur

das, was er ihnen offenbart. Aber ihr Interesse aneinander wächst mit jedem

Tag. Die Rede ist von Emmi und Leo, den beiden Hauptfiguren in dem Roman „Gut

gegen Nordwind“ von Daniel Glattauer. Der Roman besteht fast ausschließlich aus

E-Mails, die sich Emmi und Leo schreiben. Wobei alles mit einem Missverständnis

beginnt:

O-Ton (Emmi):

„Verzeihen Sie die schriftliche Belästigung, Herr Mfg Leike. Sie sind mir

irrtümlich in meine Kundendatei gerutscht, weil ich vor einigen Monaten ein

Abonnement abbestellen wollte und versehentlich Ihre E-Mail-Adresse erwischt

hatte. Ich werde Sie sofort löschen.“

Autor: Tatsächlich

löscht Emmi die Adresse von Herrn Leike nicht. Stattdessen nennt sie ihn schon

bald bei seinem Vornamen: Leo. Auch sonst werden sich die beiden zunehmend

sympathisch. Allerdings ist die Sache mit den E-Mails auf die Dauer etwas

unbefriedigend. Man möchte doch irgendwann wissen, wie der andere aussieht. Und

nicht nur, wie man ihn sich vorstellt.

O-Ton (Leo):

„Wir erzeugen virtuelle Fantasiegestalten, fertigen illusionistische

Phantombilder voneinander an. […] Aber sonst? Nichts. […] Wir wohnen nirgendwo.

Wir haben kein Alter. Wir haben keine Gesichter.“

Autor: Das

versuchen Emmi und Leo zu ändern, indem sie sich in einem Café verabreden. Das

Treffen ist allerdings kein Erfolg. Die beiden erkennen sich nicht, laufen

aneinander vorbei und sind nachher so schlau wie vorher.

Trotzdem schreiben sie sich

weiter E-Mails. Und werden dabei miteinander immer vertrauter.

O-Ton (Emmi):

„Bei Ihnen, lieber Leo, scheue ich mich nicht, so spontan zu sein, wie ich im

Innersten bin. Ich überlege nicht, was ich Ihnen zumuten kann und was nicht.

Ich schreibe einfach munter drauflos, und das tut mir so wahnsinnig gut!!!“

Autor: Es

könnte also alles ganz wunderbar sein. Aber der Kontakt wird immer wieder

dadurch belastet, dass Emmi und Leo mehr wollen. Besonders schwierig wird es,

wenn sie Phantasien übereinander entwickeln und davon ausgehen, dass diese

Phantasien der Realität entsprechen.

O-Ton (Emmi):

Meister Leo, das macht mich wahnsinnig, dass Sie sich so sicher sind, zu

wissen, wie ich aussehe. Das ist ziemlich impertinent von Ihnen.

Autor: Am

besten funktioniert die Beziehung zwischen den Beiden, wenn sie akzeptieren,

dass sie sich nicht sehen können. Und dass der andere vermutlich nicht so ist,

wie sie ihn sich vorstellen.

In dieser Hinsicht ist es mit

Emmi und Leo so ähnlich wie mit Gott und mir. Auch da ist es am besten, wenn

ich Gott einfach den großen Unbekannten sein lasse, der er ist. Zu dem aber

trotzdem ein offener Kontakt möglich ist.

O-Ton (Emmi):

Sie nehmen mich so, wie ich bin.

Autor: Sagt

Emmi über Leo. Und auch ich habe das Gefühl, das Gott mich so nimmt, wie ich

bin. Dass ich nicht weiß, wie er aussieht, ist dabei nebensächlich.

Redaktion: Pastorin Sabine Steinwender-Schnitzius

  • 26.8.2021
  • Martin Vogt
  • (Foto: Pixabay)