Einander lesen

Kirche in WDR3 | 13.08.2021 | 00:00 Uhr

Autorin: Guten Morgen!

Sie ist 2020 neu

rausgekommen. Zuerst hab´ ich es gar nicht kapiert, obwohl sie im Prinzip

täglich vor meinen Füßen lag: Die Neue

Rheinuferzeitung. Da liegt sie, über viele hundert Meter aufgerollt vor mir

auf dem Asphalt.

Wenn Sie auf der linken

Rheinseite zwischen Köln-Rodenkirchen und Altstadt mit dem Fahrrad oder zu Fuß

unterwegs sind, kommen Sie kaum drum herum, diese Bodenzeitung zu lesen. Meine

Augen bleiben immer wieder an den Worten vor mir auf der Straße hängen. Sie

sind mit Kreide auf den Weg gemalt.

Vor meinen Fahrradreifen ploppen

Botschaften oder Bilder auf, die dann aber beim Drüberfahren verschwinden, noch

bevor ich sie vollständig entziffern kann; manche kommen spiegelverkehrt auf mich

zu und wenn man in Fahrt ist und nicht stehen bleiben und sich umdrehen will,

muss man auf den Heimweg warten, um in der Gegenrichtung weiter lesen zu

können.

Was gibt es für Schlagzeilen

in der Rheinuferzeitung?

Sprecher

und Sprecherin:

Redet miteinander

Solidarität

Ich vermisse dein Lächeln

Einsamkeit

Grundrechte und Freiheit

Mein Licht verbindet

Autorin: …oder unter „Verschiedenes":

Sprecher: Ich hab` dich

lieb, Ehefrauchen

Autorin: Neulich gab es auch etwas zum Mitnehmen: Da lag am

Wegesrand ein Stein, auf dem stand in blauer Druckschrift „Wo Recht zu Unrecht

wird". Wer nimmt so etwas wohl mit nach Hause, hab´ ich mich gefragt.

An einer anderen Stelle lag

auf der Brüstung zum Rhein hin eine Stoffpuppe, die ein bisschen wie Pippi

Langstrumpf aussah. Sie hatte so einen frechen Ausdruck im Gesicht. Schön, beim

Vorbeifahren in ein fröhliches Gesicht ohne Maske zu gucken, auch wenn es nur

einer Puppe gehört…

Die Neue Rheinuferzeitung ist

jeden Tag anders, oft verblassen die Schriften aus Kreide und manchmal wischt

der Regen die wichtigsten Artikel weg.

Es gibt auch Menschen, die

sagen: „Das ist doch nur banales Gekritzel auf dem Boden.“

Ich kann das gar nicht

finden. Menschen schreiben ihre Not, ihre Sorge, ihre Überzeugung oder ihr

Glück auf den Rheinuferweg, den andere Menschen entlanggehen oder -fahren. Jede

und jeder kann das tun. Statt sich – wie in der Pandemie üblich – ins eigene

Schneckenhaus zurückzuziehen, teilen sich diese Menschen mit. Und öffnen sich

für andere und erweitern damit ihren Horizont.

Die Zeitung macht mir etwas

klar: Bei dem ganzen Projekt geht es darum, aufmerksam zu werden: auf die

Botschaften der Menschen, die an der Zeitung mitschreiben. Und damit ja auch aufmerksam

auf die Menschen selbst. Wie in meinem Glauben. Denn glauben bedeutet

„geistesgegenwärtig“ sein. Auf die Botschaften meiner Mitmenschen zu achten.

Sie wahrzunehmen. Sie versuchen zu entziffern.

Deshalb möchte ich diese

Woche einmal versuchen, die Menschen, die meinen Weg kreuzen, so aufmerksam zu

lesen wie die Rheinuferzeitung. Und wenn es mal mit der Übersetzung nicht

klappt – dann hoffe ich auf den Geist Gottes. Der verbindet auch da, wo man

nicht die gleiche Sprache spricht oder auf derselben Wellenlänge schwimmt.

Ich wünsche Ihnen einen guten

Morgen, Ihre Pfarrerin Nicola Thomas-Landgrebe aus Köln-Frechen

Redaktion: Landespfarrerin

Petra Schulze

https://www.kirche-im-wdr.de/uploads/tx_krrprogram/55845_WDR3520210813Landgrebe.mp3

  • 13.8.2021
  • Nicola Thomas-Landgrebe
  • (Kirche im WDR)
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