Pläne ohne NOCH

Kirche in WDR3 | 26.07.2022 | 00:00 Uhr

Guten

Morgen.

Autsch.

Das hat gesessen. Fettnäpfchen Alarm.

Meine

Freundin dreht sich um… Sie ist schon über 80. Sie ist bei mir zu Besuch und

macht sich von hier aus auf den Weg nach England. Mit Bus und Bahn. Rucksack

auf dem Rücken, Handtasche um, Koffer. Los geht’s. Wir stehen im Flur. Sie geht

voran, und ich sage: „Wie toll, dass Du noch solche Reisen machst.“ Sie dreht

sich um. Wenn Blicke töten könnten. „Als ich Lehrerin war, habe ich meinen

Schülerinnen und Schülern gesagt: Ihr dürft ein Wörtchen nicht sagen, wenn ihr

mit alten Menschen sprecht. Das Wörtchen heißt `NOCH`.“ Mir wird heiß und kalt

und ich werde rot… und bin verlegen. Habe verstanden. „NOCH“. Noch kann ich

das, sage ich selbst manchmal.

Ich

denke, grundsätzlich ist das „NOCH“ kein schlechter Ratgeber: Denn es sagt ja:

Denk dran, nicht alles ist ewig. Die Kraft, die Gesundheit, die Lust und Neugier

auf so vieles. Deshalb genieße das alles, solange du es hast. Und stelle dich

gleichzeitig drauf ein, dass es einmal anders sein kann oder wird. Gleichzeitig

kann das „NOCH“ mich auch lähmen. Ein Hauch von Trauer und Melancholie liegt in

der Luft. Vielleicht meine letzte Reise… Das mag realistisch sein. Aber mir

entzieht das auch Kraft. Es motiviert mich nicht. Ich bin motiviert, wenn ich

Pläne mache. Pläne machen. Die großen, die noch viel Zeit brauchen und die

kleinen, die ich schon heute verwirklichen kann. Und diese Pläne nicht zu klein

machen. Denn große Pläne ziehen mich weiter. Man nennt das auch Sehnsucht. Das

Wörtchen NOCH erstickt jede Sehnsucht. Und die Sehnsucht, sie ist – so sagte es

der Philosoph Ernst Bloch einmal – die Sehnsucht ist die ehrlichste Eigenschaft

des Menschen. (1) Die Sehnsucht treibt mich an, mich nicht mit dem Alltäglichen

abzufinden. Sie treibt mich an, mit mehr zu rechnen, als ich selbst bin und aus

meiner Sicht gerade sein kann. Die Sehnsucht macht Pläne und hängt sie an den

Himmel wie einen Stern. Und ich kann meinen müden Seelenkarren an diesen Stern

hängen und mich von ihm ziehen lassen. Nach dem Motto von Leonardo da Vinci:

"Binde deinen Karren an einen Stern.“ (2) Das Schwere des Erdenlebens, das

elende Wörtchen „NOCH“ mit seiner Drohkulisse von „bald ist es zu spät“ oder

„bald geht das gar nicht mehr“, einfach mal abhängen und mich lieber an einen

Stern binden. Mich ausstrecken nach dem oder der da oben. Dann geschehen

wunderbare und völlig unerwartete Dinge. In der Bibel lese ich davon, wie ein

altes Paar ein Kind bekommt. Hups. Fast hätte ich gesagt „wie ein altes Paar

NOCH ein Kind bekommt“. Klar, gemessen am Durchschnittsfruchtbarkeitsalter ist

es zu spät. Und doch bekommen sie ein Kind. Gemessen am Durchschnittslebensalter

ist es ein bisschen verrückt, wenn man mit über 80 auf Berge steigt, Reisen mit

Rucksack und Koffer per Bahn unternimmt und mit dem Sohn einen

Gleitschirmsprung wagt. Doch mit diesem Maß misst Gott nicht. Er setzt auf

meine Sehnsucht. Die mir manchmal mehr möglich macht, als ich mir erlaube zu

träumen.

Deshalb:

Ehre die Alten, sagt Gott. Und meint damit auch: Nimm ihnen nicht ihre

Sehnsucht. Und das heißt: Lass das Wörtchen NOCH doch bitte in der Schublade,

wenn du mit ihnen sprichst. Und für dich selbst kannst du das auch gleich mal

dort lassen.

Ich

wünsche Ihnen Sehnsüchte und Pläne, die Ihnen Lust am Leben machen. Und dass

Gott Ihnen Wege zeigt, wie Sie sie verwirklichen können.

Ihre

Petra Schulze, Rundfunkpfarrerin in Düsseldorf.

(1) Zitiert nach: Anselm Grün: Das kleine Buch der Sehnsucht, III. Im

Innersten berührt: Die

ehrlichste Eigenschaft, Verlag Herder; Auflage: 1 (8. Dezember 2009).

ISBN-13:978-3451071041.

(2) https://www.aphorismen.de/zitat/23283

(abgerufen am 12.07.2022)

https://www.kirche-im-wdr.de/uploads/tx_krrprogram/58816_WDR3520220726Schulze.mp3

  • 26.7.2022
  • Petra Schulze
  • © sk on Unsplash (CCO)
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